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Folge 1 (22.05.2014) – Wo ist Mario?

Während sich die veröffentlichte Meinung mit Sekundärfragen beschäftigt, wie derjenigen ob die vermeintlich unverzichtbaren Leistungsträger Neuer, Lahm und Schweinsteiger im südtirolischen Passeiertal noch für die WM fit gemacht werden können, stellt sich mir nur eine Frage: Wo ist Mario? Mario Gomez, Beau und Schwerenöter, der Mann, der die Herzen aller Schwiegermütter schneller schlagen lässt…und auch meins - wo ist er nur? Wie kann es sein, dass diese gigantische Tormaschine nicht mal für’s DFB-Trainingslager nominiert worden ist? Natürlich war Gomez über weite Teile der abgelaufenen Spielzeit aufgrund seines maladen Knies bei seinem Klub, dem AC Florenz, zum Zuschauen verdammt. Aber warum hat der Bundestrainer ausgerechnet an ihm ein Exempel für sein im Frühjahr postuliertes Credo hundertprozentiger Belastbarkeit statuiert, während Khedira, Klose, Schmelzer und Schweini trotz beträchtlicher Blessuren einfach so durch gewunken wurden? Es dürfte kein Geheimnis sein, dass allen voran Joachim Löw nie ein erklärter Fan des früheren Stuttgarters war. Zugegeben, bisweilen wirkte Gomez etwas hüftsteif und ungelenk in seinen Aktionen. Dennoch, wer auf einen eiskalten Killer wie ihn verzichten kann, der muss grandiose Alternativen auf der Position des Sturmführers haben, die DE zum ersten WM-Titel seit 1990 bomben können. Alles andere wäre ein Skandal oder fahrlässig! Oder etwa nicht? Eher nicht, denn es gibt sie nicht die überzeugenden Alternativen. Nur den Veteranen Miroslav Klose, einen knapp 36-Jährigen ehemaligen Weltklasse-Stürmer, dessen Niveau schon seit 2-3 Jahren nicht mehr für Gegner der Haute Categorie reicht und mit Kevin Volland (21) ein Talent, das zwar eine überdurchschnittlich gute Bundesliga-Saison gespielt hat, der aber an jedem Ghanaischen Verteidiger abprallen und zu Boden sinken wird, wenn er denn überhaupt im finalen Kader steht und die Reise ins Land des fünffachen Weltmeisters antreten darf. Kann sich jemand vorstellen, dass ein Mario Gomez an Ghanas Defensive zerschellen würde? Niemals. Es sei hier nur an sein 1:0-Siegtreffer gegen Portugal bei der EURO2012 erinnert, den er per Kopf im Rückwärtslaufen gegen die Laufrichtung des Torhüters erzielt hat. Phänomenal und absolute Weltklasse war das. Spieler wie Mario Gomez machen auf dem internationalen Top-Level den Unterschied, auch wenn ihm zugegebenermaßen die Spielpraxis fehlt. Aber bei allem was er für den deutschen Fußball geleistet hat, wäre es mehr als fair gewesen, ihm die Chance zu geben, sich in der Vorbereitung auf das Turnier zu zeigen und zu beweisen. Aber Löw wird froh sein, Marios Verletzungsseuche in 2013/14 als Alibi heranziehen zu können um ihn auszusortieren. So kann er zum einen mit seiner verquarkten „falschen Neun“ noch spanischer spielen lassen als die Iberer selbst, deren Trainer Del Bosque allerdings schon längst wieder vom Taka-Tuka abgerückt ist („Fußball ist nicht nur Kurzpassspiel. Es gehören auch lange Pässe dazu. Und eine gewisse Tiefe.“). Zum anderen steht Löw – wenn er dann doch mal zum Mittelstürmer der alten Schule greifen möchte – nicht mehr vor dem Dilemma, dass er eigentlich den dynamischeren Florentiner dem alternden Römer Klose vorziehen müsste. Er kann nun mit Klose auf einen seiner Lieblingsschüler zurückgreifen ohne sich der Öffentlichkeit erklären zu müssen, wenn das nicht funktionieren sollte. Ach Mario, Du wirst mir in den nächsten sechs Wochen arg fehlen!

Folge 2 (16.06.2014) – Deutschland hat den Blues…

Plötzlich traut fast keiner den deutschen Turniermonstern mehr den großen Wurf zu. Was ist da los im Staate Germany? Sind Portugal und Co etwa eine Nummer zu groß für uns oder sind wir morgen praktisch schon Weltmeister? Aber lest selbst...

Deutschland hat anscheinend den Blues… Warum nur frage ich mich, denn dem Vernehmen nach ist unser Nationalteam doch angeblich „Bereit wie nie“, dann sollte das auch für den fußballaffinen Bevölkerungsteil gelten und dieser ein wenig mehr (aber gleichzeitig auch nicht zu viel) Optimismus versprühen. Dass in dieser Hinsicht noch Steigerungspotential besteht, belegt eine wahrscheinlich nicht ausgesprochen repräsentative Online-Umfrage der Frankfurter Rundschau. Auf die Frage „Erreicht Deutschland das Finale bei der Fußball-Weltmeisterschaft?“ wählten 45% der Teilnehmer die vorgegebene Antwortmöglichkeit „Nein, eher nicht. Die Mannschaft ist über den Zenit hinaus“ aus. Sicherlich kann man der Mission „vierter Stern“ mit der gebührenden Skepsis begegnen, aber das Team als über den Höhepunkt hinaus zu bezeichnen geht dann doch zu weit und ist nebenbei ziemlich unsachlich. Möglicherweise stand der ein oder andere der Pessimisten noch unter dem Eindruck der leicht dahingerumpelten Testspiele gegen Armenien (ersten 60 Minuten) und Kamerun (full-time), aber der langjährige Begleiter der DFB-Elf weiß, dass man sich von Auftritten der DFB-Elf in der Turniervorbereitung noch weniger beeindrucken lassen darf als von der mit reichlich Patina verzierten Jennifer Lopez und ihrem beinah gruseligen WM-Song „We are one“. Also im Prinzip gar nicht. Speziell in Zeiten beinah unkontrolliert wuchernder Online-Medien könnte man sich 24/7 mit der persönlichen Vorbereitung auf den WM-Auftakt unserer Mannschaft gegen Portugal beschäftigen. Man kann es aber auch einfach lassen - Ronaldos diverse Knie- und Oberschenkelwehweh’chen genauso ignorieren wie die Wettervorhersagen für die Metropolregion Salvador (28 Grad, 80% Humidity) oder Mario Götzes Gemütszustand und sich einfach nur auf das Spiel freuen so wie anno 1982. Der Kenner wird sofort wissen, warum ich mir ausgerechnet dieses Jahr herausgepickt habe, obwohl ich eigentlich nicht mehr so viel von „Damals“ berichten wollte. Also, damals bestand die Einstimmung auf das erste deutsche Turnierspiel darin, dass sich das vornehmlich männliche TV-Publikum gut eine Stunde bevor in Gijon gegen Algerien angepfiffen werden sollte, den bei „Sport Extra“ versammelten steinalten Funktionären, die der DFB nicht mit nach Spanien nehmen wollte, dabei zusah, wie sie sich über algerische Gastarbeiter lustig machten. Tatsächlich wurden drei von ihnen ins Studio eingeladen um sie über die Aussichten ihres nordafrikanischen Teams gegen den Ex-Großweltmeister aus Deutschland zu befragen. Befreit von überflüssiger Höflichkeit und falscher Rücksichtnahme tippten die Gäste voller inbrünstiger Zuversicht 2:1 für Algerien. Zum „Dank“ ernteten sie dafür von Moderator Hans-Joachim Rauschenbach ("Gibt es bei Ihnen nur Idealisten und keine Realisten?") und der Schar alter Männer Hohn und Spott ebenso wie Mitleid und eine Arroganz, die man wahrscheinlich seit dunkelsten Kolonialzeiten von deutscher Seite nicht mehr afrikanischen Bürgern entgegen gebracht hatte. Die Rache für diese freakartige Vorführung folge und es kam wie es kommen musste: Belloumi und Madjer nagelten Breitner, Rummenigge & Co. mit 2:1 an die Wand. Anschließend musste der Begriff kleinlaut neu definiert werden. Seitdem gilt für ihn die Maßeinheit: 1 Rauschenbach. Aber: das war nicht nur die letzte sondern auch die einzige WM-Auftaktniederlage einer bundesdeutschen Nationalelf in 80 Jahren. Unvergessen bleibt natürlich das 4:1 über Jugoslawien, das uns 1990 zum Titel getragen hat. Deutschland kommt traditionell mitunter elegant aus dem Startblock und das dürfte auch heute so sein. Daran wird auch Portugal nichts ändern können. Die kleine Iberer sind ein gutes, aber völlig überschätztes Team, an dessen Abhängigkeit von einem Zirkuspferd (CR7) nicht mal der argentinische Maradona-hörige-Trupp von `86 ran reicht. Diese Zuversicht speist sich nicht nur aus der bärenstarken Pflichtspiel-Bilanz unseres Teams sondern auch aus der anscheinend bröckelnden Beratungsresistenz unseres ansonsten und bislang völlig beratungsresistenten Bundes-Löws. Drei Anzeichen sprechen dafür: 1.) Angeblich wurden im Südtiroler Trainingslager nicht nur Ausweichmanöver, Vollbremsungen und stabile Seitenlage sondern auch Standardsituationen bis zum Abwinken geübt. Durchgedrückt wurde dies von Bundes-Asi Hans-Dieter Flick. 2.) Kurz bevor Löws Bemühen Tiki-Taka, Barca & Guardiola zu kopieren kaum noch anbiedernder und peinlicher werden und Kroos, Özil & Co. aus den Händen von Juan Carlos dem Ersten die spanische Staatsbürgerschaft ehrenhalber verliehen werden konnte, erkannte der Schweizer Scout und Löw-Flüsterer, Urs Siegenthaler, das bei der vermeintlichen „WM der Strapazen“ (Großphilosoph Löw) es doch besser wäre sich (und uns) nicht an ermüdenden Ballstaffetten zu ermüden sondern einfach Hummels den Ball nach vorne schlagen und von Schürrle und Müller verwerten zu lassen. 3.) In Zeiten der Not als wichtige Korsettstangen im Defensivkonstrukt nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte waren, entschied sich Löw vom Besten zu lernen – vom Kaiser höchstpersönlich! In Ermangelung von technisch begabten Kickern hatte Franz Beckenbauer im Finale 1986 sechs gelernte Manndecker auf’s Feld geschoben. Was beim 2:3 gegen Argentinien nur wegen einer gescheiterten Abseitsfalle noch nicht von Erfolg gekrönt war, gelang vier Jahre später als die favorisierten Holländer im Achtelfinale an sieben deutschen Defensivkünstlern zerschellten. Ein Triumph ohnegleichen der frühen Polyvalenz. Und so werden wir heute wohl erleben, dass Höwedes, Hummels, Merte, Boateng, Lahm und Khedira das Neuer’sche Tor dermaßen verrammeln werden, dass jeder Mannschaftsbus vor Neid erblassen wird. Und dann werden die Portugalen schön ausgekontert – ich freu mich drauf und spätestens nach dem Schlusspfiff sind wir dann (auch für die 45% Skeptiker der FR) wieder wer: z.B. Weltmeister – mindestens!

Folge 3 (24.06.2014) – Fellaini, marry me…

Im Leben muss man sich auch mal Zeit nehmen für die wirklich schönen Dinge! Die WM ist bislang eines davon. Damit war vorher nicht unbedingt zu rechnen. Auch ich – das gebe ich offen zu – lag mit meinen düsteren Prognosen mal wieder weiter daneben als jeder handelsübliche Goldfisch. Das zeigt sich glasklar in der firmeninternen Tipprunde. Während die von einer glücklichen Fügung zusammengelosten Ahnungslosen ganz oben rücksichtslos ihre Kreise ziehen, habe ich meinen Tippartner, der offen gestand, dass er gar keinen Schimmer hätte und ich mal machen solle, mit meinem düsteren, vermeintlichen Fachwissen in den Abgrund gezogen. Die Anzahl der von mir richtig geweissagten 0:0’s und 1:0’s halten sich in etwa mit meinen erfolgreichen Liebschaften die Waage – beides tendiert gegen Null. Aus fachlichen Gesichtspunkten waren diese Tipps genial, nur die Spieler wussten nicht, dass diese Partien eigentlich nur so hätten ausgehen können. Nun gut – Schwamm drüber. Viel wichtiger ist doch was hinten raus kommt. Und wenn das jede Menge Tore sind – und Deutschland die letzten Treffer des Turniers erzielen wird – umso besser.
Doch die Freude am Fußballfest ist nicht ungetrübt: In der immer hektischeren Berichterstattung um die WM mischen sich zunehmend unsachlichere Kommentare. Das empfinde ich als äußerst schmerzhaft. Ich bin Purist, will das auch bleiben und möchte mich auf den reinen Sport konzentrieren und liebe Hintergrundberichterstattung höchschtens von den Qualtitätsjournalisten der SZ, FR und FAZ. Die einzige Schlagzeile vom Boulevard, die mich jemals in Verzückung gesetzt hat, war die unmissverständliche Aufforderung der BILD vor dem deutschen Auftaktmatch bei der WM 2002 gegen Saudi Arabien an Teamchef Rudi Völler. Sie lautete: Rudi, haudi Saudi! Ein Klassiker des Genres. Ganz krank macht mich die gegenwärtig zunehmende Polemik der Onlinemedien. Dort wird plötzlich ein neuer Phantomtrend gefeiert. „Immer mehr Jokertore“ lauten landauf landab jubilierend die Schlagzeilen. Was soll das? Ausufernde Statistiken darüber halte ich für verzichtbar. Sie stiften keinerlei Erkenntniswert.
Wenn wir schon mal bei den verzichtbaren Dingen sind, möchte ich noch einige weitere anfügen. Nein, ich denke jetzt nicht an brasilianische Bikinibomben. Ganz im Gegenteil! Mir stößt mal wieder die affektierte Andersartigkeit des Bundestrainers auf. Mir hat das Spiel gegen Ghana gut gefallen und ich war auch in keinster Weise von dem Ergebnis oder der Leistung der deutschen Mannschaft enttäuscht so wie anscheinend die Masse der unkundigen Schland-Jünger. Natürlich war der Versuch die Afrikaner anfangs mit brutalster Tempodrosselung einzuschläfern im Nachhinein ein krasser Fehler. Man darf nicht vergessen, dass wir einem Team gegenüberstanden, das gewinnen musste um nicht selbst auszuscheiden. Dass die früher oder später beginnen würden Tempo und Risiko zu erhöhen war zu erwarten. Häufig ist dann das auf Kontrolle bedachte Team nicht mehr in der Lage den berüchtigten Schalter umzulegen und wird überrannt. Dem ungeplanten Kontrollverlust auf beiden Seiten war es dann zu verdanken, dass sich in der zweiten Hälfte ein spannendes, nervenzerfetzendes, atemberaubendes und hochklassiges Spiel entspann – ein wilder Spaß, ein einziges Hin und Her! Man konnte am Fernseher beinah das Gemisch aus Schweiß und Adrenalin in der heißen Nacht von Fortaleza riechen. So etwas ist sehr selten und kostbar. Wer Weltmeister werden will, und das ist immer noch unser Anspruch und auch mein größter sportlicher Wunsch, der kann in den seltensten Fällen alle Spiele bei einer Fußball-Weltmeisterschaft gewinnen. Auch die Spanier brauchten 2010 zu Beginn den 0:1-Einlauf durch die Schweiz um sich zu entfalten. Und unsere deutschen Helden von 1990 beendeten die Vorrunde mit einem sagenhaft schlichten 1:1 gegen die Kolumbianer um Carlos Valderama und René Higuita. In einem absolut gruseligen Kick ging der spätere Weltmeister selbst erst in der 89.ten Minute durch meinen damaligen Lieblingskicker Pierre Littbarski in Führung, nur um in der durch Valderama verursachten 6-minütigen Nachspielzeit auszugleichen (Freddy Rincon). Wer erinnert sich nicht mit Schrecken? Aber so Spiele braucht man, um die Bodenhaftung nach gelungenen Auftritten nicht zu verlieren und sie schaden ja keinem, von daher sollte man mit einem 2:2 über ein starkes Ghana leben können, wenn denn aus den begangenen Fehlern die richtigen Lehren gezogen werden.
Zurück zu Löws verzichtbarer Andersartigkeit: Die Variante mit den vier Innenverteidigern mag aus der Not geboren worden sein und für das Portugal-Match perfekt gepasst haben. Weltfussballer Ronaldo ist schließlich Außenstürmer und musste von einem erfahrenen Profi ausgeschaltet werden. Zudem wäre einer der formstarken Hummels, Mertesacker und Boateng auf der Bank verschenkt. Es ist also richtig, dass alle drei gleichzeitig auf dem Feld stehen. Gar nicht nachvollziehbar ist dagegen die Nummer, die Löw mit dem international völlig unerfahrenen Shkodran Mustafi abzieht, der ja eigentlich auch gelernter Innenverteidiger ist, dann aber in zwei Spielen für die angeschlagenen Hummels und Boateng rechts ran muss. Und was passiert? Er verschuldet den Ausgleich und wird danach – obwohl häufig am rechten Flügel mitlaufend und anspielbar – von seinen Mitspielern komplett geschnitten. Mir kommt es so vor als würde der Bundestrainer mit dem Festhalten an dieser fixen Idee seine Andersartigkeit demonstrieren wollen. Dass dies auf dem Rücken des Spielers geschieht und auch zu Lasten des Teamerfolges gehen kann, sieht Löw dabei nicht oder nimmt es willentlich in Kauf. Für mich sind die Entscheidungen von Löw immer noch reine Geltungssucht, er will sich unbedingt dadurch profilieren, immer alles anders als erwartet zu machen. Bei mir verstärkt sich der Eindruck als sei diese ganze Mustafi-Nummer zudem nur der krampfhafte Versuch dessen Nachnominierung zu rechtfertigen und Löws persönliches Ego zu streicheln. Zudem wimmelt es in Löws selbstverliebter Welt von seinen kaum noch zu ertragenden Wortungetümen wie „Zwischenspielern“, „Ballkontaktzeiten“ und neuerdings sogar „Spezialkräften“. Natürlich sind die alle total fokussiert!


Die deutsche Nationalmannschaft ist seit Jahren eine der besten der Welt, nachdem sie vor der WM 2006 noch auf Platz 22 (!) der FIFA-Rangliste stand. Sie spielt immer auf Sieg, erzielt haufenweise tolle Tore und liefert spektakuläre Partien in schöner Regelmäßigkeit ab. Im Kader stehen viele junge, dynamische, technisch hervorragende Akteure um die uns die meisten Nationen beneiden. Dennoch ist sie verwundbar, was zum einen an der Unausgewogenheit zwischen den Positionen liegt. Bekanntlich mangelt es seit Urzeiten an Außenverteidigern und auch die Horst-Uwes dieser Welt, also die klassischen Mittelstürmer, werden nicht mehr zwischen Rhein und Oder geboren. Zum anderen gerät das Team aus dem Gleichgewicht wenn zuviel experimentiert und ihm ein unpassendes taktisches Konzept übergestülpt wird. So verwundert es doch ziemlich, dass man nach einer zweijährigen Qualifikations- und Testspielphase plötzlich bei der WM erstmals mit einer Viererkette bestehend aus ebensovielen Innenverteidigern aufläuft und hinter der „neuen“ Spitze Thomas Müller eine so noch nie erprobte Dreierreihe Götze, Kroos, Özil ins Rennen schickt, in der – um die Verwirrung abzurunden – Götze und Özil auf den „verkehrten“ Seiten spielen. Mario Götze wäre rechts statt links besser aufgehoben, während der Arsenal-Star, wenn schon nicht zentral, dann doch bitte schön links auflaufen sollte. Dennoch, wer das Team kritisch beäugt, der jammert auf hohem Niveau. Trotz aller positiven Aspekte ist da aber unterschweillig noch dieses weit verbreitete peinigende Gefühl, dass es die Verantwortlichen nicht schaffen, das volle Potential der Nationalelf abzurufen und in Erfolge und Titel umzumünzen. Jetzt ist die Zeit gekommen, in der die Goldene Generation gemolken werden muss.


Gerade, wenn es nicht perfekt läuft, fällt es mir ganz schwer deutsche Länderspiele in Gegenwart von Menschen zu erleben, die keine Ahnung von den Realitäten des Fussballsports haben und die dumm daherschätzen. Generell lasse ich diesbezüglich neben meiner eigenen Meinung nur die von ganz wenigen, mir persönlich seit mindestens 20 Jahren bekannten, Weggefährten gelten. Ich möchte mich einfach vor Sprüchen wie: „Mensch, was spielen die denn da wieder für einen Dreck?“ oder „die verlieren doch eh!“ bzw. vor unüberlegten Wutausbrüchen meinerseits schützen. Auch vermeide ich in Phasen der deutschen Schwächeanfälle den Kontakt mit den internationalen Pressestimmen. Der Konsum des Satzes: „die deutschen Panzer rollen nicht mehr“ aus der englischen Yellow Press bringt mich nicht wirklich weiter. Doch dieses Mal ist alles viel schlimmer: Das dritte Vorrundenspiel gegen die USA ist nicht mal angepfiffen und schon findet in den Medien eine beispiellose Treibjagd und Vorverurteilung statt. Aufgrund der Konstellation, dass beiden Verbänden ein Unentschieden zum Weiterkommen reicht, für die der DFB am allerwenigsten kann, wird eine Wiederholung der Schande von Gijon als Schreckensszenario an die Wand gemalt. Gänzlich unbedarfte Medien wollen mir zudem erklären „Wie Deutschland ins Achtelfinale kommt!“ Als bestünde bei drei Punkten und fünf Toren Vorsprung daran auch nur der geringste Zweifel. Sowas brauch ich alles nicht. Auch wenn die Amerikaner tolle Streetfighter sind, so besteht bei mir nicht der leiseste Zweifel daran, dass wir sie übermogen deutlich schlagen werden. Alles andere wäre das falsche Signal. 1982 ist vorbei, darf und wird sich nicht wiederholen. Zum einen was den „Nicht-Angriffspakt“ betrifft. Zum anderen wird die DFB-Elf niemals wieder gegen Algerien den Kürzeren ziehen, wenn es denn tatsächlich im Achtelfinale zu einer Neuauflage kommen sollte. Aber erst müssen die Nord-Afrikaner noch Donnerstag gegen bislang schwache Russen bestehen, was schwieriger werden dürfte, als sich die Afrikaner möglicherweise vorstellen.
Was war sonst noch? Unbemerkt, aber wahr - die Vorrunde und damit die Mehrzahl der Spiele - ist schon fast vorbei. Niemals zuvor habe ich bei einer WM prozentual so wenige Spiele gesehen wie dieses Mal. Leider, muss ich sagen, denn insbesondere Portugal – USA oder England – Italien hatte ich mir vorgemerkt, bin aber kläglich an der Zeitverschiebung gescheitert. Die 0-Uhr-Spiele endeten für mich zielsicher spätestens mit der ersten Ballberührung. Das war 1986 in Mexico noch ganz anders. Teilweise hat mich zuletzt selbst bei den Nachmittagsspielen der gefürchtete Sekundenschlaf übermannt. Zum Glück habe ich am 22. Juni aber wenigstens die Szene mitbekommen, die mich bislang – nach Kloses Rekordtor – am meisten entzückt hat: Bei Belgien - Russland wurde zu Ehren Marouane Fellainis, das ist der belgische Himmelsstürmer, bei dem die Eigenhaartransplantation ein wenig aus dem Ruder gelaufen ist, ein Schild mit der Aufschrift „Fellaini, marry me!“ flehentlich in die Höhe gereckt. Ulkigerweise nicht von einer feurigen Brasilianerin, wie es dem guten Marouane wahrscheinlich am besten gefallen hätte, sondern von einem kleinen, dicken, zur Kahlköpfigkeit neigenden älteren Herrn. Von dieser Seite scheint Fellaini Ungemach zu drohen. Wir werden diese sich möglichweise anbahnende zarte Romanze jedenfalls genau beobachten.

Folge 4 (30.06.2014) - Liebesbriefe an Sabine Heinrich

Ich habe in meinem Leben schon so manch richtige Entscheidung getroffen. Die Idee, meinen Sohn am späten Nachmittag des 26. Juni am anderen Ende der Stadt von seiner Schule abzuholen, gehörte mit absoluter Sicherheit nicht dazu. Abertausende seit dem Sommermärchen 2006 hinzugekommene Deutschland-Jünger verstopften alle In- und Ausfallsstraßen Düsseldorfs sowie sämtliche mir bekannte Schleichwege bei ihrem Anliegen rechtzeitig zum Anpfiff des Spiels gegen die Klinsmänner auf ihrer Couch zu hocken oder irgendein Rudelgucken mit ihrer Anwesenheit zu beglücken. Auf der zweistündigen Irrfahrt wechselten sich bei mir in unschöner Regelmäßigkeit Wut, Panik und Heulkrämpfe ab. Aber es half alles nichts. Das Kind musste abgeholt und heim gebracht werden. Dadurch habe ich nicht nur die ersten dreißig Minuten verpasst, sondern auch bitterstes Lehrgeld bezahlt (als wäre ich selbst ein Eventie) statt die Transportaufgabe elegant an Oma & Co. zu delegieren. Nun gut, es wird nicht mein letztes Turnier gewesen sein, und Shuttlefahrten an DE-Spieltagen kommen ab sofort ganz oben auf die Liste, der Dinge, die ich nicht mehr machen werde, direkt hinter: auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig tanzen und noch vor: Liebesbriefe an Sabine Heinrich schicken (die ich doch nur ungeöffnet zurückkriege) .

Also muss nicht nur die deutsche Mannschaft sondern auch ich aus den Fehlern der Vorrunde lernen. Zum Abschluss einer insgesamt leicht besseren Gruppenphase als 2010 gelang ein ordentlicher Auftritt gegen ein völlig überschätztes USA-Team, an dessen Ende die Gelegenheiten für ein wenig mehr Glanz bedauerlicherweise nicht genutzt wurden. Es ist nicht immer plausibel, warum das Team sich selbst guter Chancen beraubt, in dem vielversprechende Angriffe aus unerfindlichen Gründen abgebrochen werden und es stattdessen dann zu unproduktivem und unansehnlichen Ballgeschiebe im Mittelfeld kommt. Nahezu unerträglich wird das Ganze sobald Mertesacker in der Verwertungskette den Ball erhält. Selbiger landet dann unweigerlich bei Schlußmann Neuer, denn der gute Per muss die eingebaute Rückpaß-Automatik von Stefan Reuter auftragen. Das war in der Schlussphase gegen die US-Boys einfach „too much“ und schon ein wenig zum Fremdschämen geeignet. Richtig peinlich wäre es geworden, wenn uns Dempsey noch den Ausgleich eingeschenkt hätte. Die Chance dazu war da. Ein zweites oder gar drittes deutsches Tor hätten dem Selbstvertrauen und unser aller Selbstwertgefühl („Jetzt sind wir wieder wer!“) bestimmt nicht geschadet. Man hat den Eindruck, dass das Team aufgrund taktischer Vorgaben und der Strategie der maximalen Schonung bisweilen mit arg angezogener Handbremse gespielt hat. Wenn es wirklich der Sache dient, dann ist das so hinzunehmen. Aber der Stand-by-Modus sollte nun ausgedient haben. Es darf bloß nicht der Zeitpunkt der Explosion verpasst werden, den man vor vier Jahren so brillant erwischte, als in der K.o.-Runde England und Argentinien überrollt wurden.

Nun geht die WM also erst richtig los. Wir stehen vor den beiden Wochen der Wahrheit. Wer zum Viertelfinale noch im Turnier ist, kann Weltmeister werden. Allerdings benötigt unser Team dringend mehr Tempo um die kommenden spielerisch starken, hochmotivierten Gegner zu besiegen. Es gilt zuzubeißen und nicht selbst gebissen zu werden. Für mich scheint Deutschland jederzeit in der Lage zu sein zwei Gänge hochzuschalten. Und das müssen sie auch, denn selbst wenn die Algerier nicht so stark sind, wie sie vom Bundestrainer und Chefscout Urs Siegenthaler gemacht werden, so werden wir in Porto Alegre auf einen Gegner treffen, der mit Stolz und Herzblut kämpfen wird. Das alberne Überhöhen des Gegners ist absoluter Bullshit und erinnert doch sehr an die Spätphasen von Vogts und Völler als jeder Schlagabtausch mit Island oder Georgien zum Duell David gegen Goliath hoch sterilisiert wurde, wobei damals Deutschland die Rolle des kleinen Davids zukam.

Die Wüstenfüchse, so heißt es nun in den einschlägigen Medien, würden auf Rache für 1982 sinnen, als ihre Urahnen durch den Preußisch-Österreichen Nichtangriffspakt von Gijon aus dem WM-Turnier gemogelt wurden. Mag sein, dass die Spieler dadurch noch mehr um ihr Leben rennen werden als sonst üblich. Aber auch als Sportler kann man sich zu sehr pushen. Zudem ist Rache schon immer ein äußerst schlechter Ratgeber gewesen. Und so dürfte die algerische Operation Desert Storm im Sande verlaufen.

Währenddessen begibt sich der Bundestrainer zum wiederholten Male auf‘s Glatteis. Auf der Algerien-PK hat er sich doch tatsächlich einer sprachlichen Unart bedient, die bislang fast ausschließlich in Politikkreisen ihr Unwesen trieb: „Wir haben geliefert bisher!“ Das hat er tatsächlich so gesagt. Ist inhaltlich zwar Schwachsinn, klingt aber „hip“, also ist Löw dabei. Ein weiterer Neuzugang für den sehr speziellen Löw’schen Wortschatz. Joachim L. bleibt halt bis auf Weiteres gefangen in seiner Matrix. Hiermit fordere ich die Gesellschaft zur Bewahrung der deutschen Sprache auf einzuschreiten, nachdem sie schon nicht den Wildwuchs mit „Großes Kino“ oder „Gefühlt“ verhindert hat.

Deutschland steht traditionell für überzeugende Achtelfinale. Es gab mal mehr (2010 4:1 England), mal weniger souveräne (2002 1:0 Paraguay) Erfolge. Immerhin wurden alle sieben Achtelfinale, die es ja erst seit 1986 gibt, direkt gewonnen, ohne den mühseligen Umweg über Verlängerung oder sogar Elfmeterschießen. Unvergessen natürlich die Mutter aller AF-Schlachten - das monströse 2:1 gegen Holland 1990 als die Rivalität zwischen den Nachbarländern auf einem ungesunden Höhepunkt kochte, DE aber dem favorisierten, amtierenden Europameister letztendlich keine Chance ließ. So richtig kritisch wurde es nur einmal. Das war 1998 – als die DFB-Auswahl lange gegen Mexico zurücklag und Bierhoff und Klinsmann erst in der Schlußviertelstunde das Spiel drehen konnten. Und dann war da noch Marokko! Der Nachbar Algeriens hatte 1986 in seiner Gruppe überraschend England, Portugal und Polen distanziert und traf zum Auftakt der K.o.-Runde auf das Team von Franz Beckenbauer. In der Hitze von Monterrey entwickelte sich ein zäher Abnutzungskampf, der nicht mal im Entferntesten an Fußball erinnerte und der gänzlich ungeeignet zur Legendenbildung war. Die drohende Verlängerung hätten wohl nicht alle Fernsehzuschauer überlebt. Zum Glück wurden sie drei Minuten vor dem Abpfiff erlöst. Lothar Matthäus hämmerte einen Freistoß aus 30 Metern humorlos ins Netz als die Nordafrikaner vor lauter Müdigkeit nicht mehr imstande waren eine Mauer zu bilden. Mögen uns Thomas Müller und seine Mitstreiter vor solchen Qualen bewahren. Zumal „Draufgänger“ Özil schon ankündigte: „Wir können Legenden werden!“ Dann bitte auch umgehend Taten folgen lassen! #reifwienie

Folge 5 (02.07.2014) - one, two, three – Algerié

Kennt jemand den Science-Fiction-Reißer Unternehmen Capricorn? Darin wird die Öffentlichkeit durch einen inszenierten Marsflug zum Narren gehalten. Eine gigantische Show, ein Riesen-Bluff. Aber eben nur ein Film. Noch nie hat jemand gewagt in der Realität einen ähnlich dreisten Schwindel durchzuziehen. Bis die Deutschen kamen!

Folgerichtig wird der 30. Juni 2014 als Tag des größten Komplotts aller Zeiten in Erinnerung bleiben und Einzug in die Geschichtsbücher späterer Generationen halten.

Auftakt zur hollywoodreifen Inszenierung von Porto Alegro war ein Gerücht, das eine DFB-Pressemaus 128 Minuten vor Anpfiff an ihre Günstlinge bei der BILD durchsteckte: „Mats Hummels muss mit einem grippalen Infekt das Bett hüten. Stattdessen rücke ein gewisser Mustafi in die Startformation.“ Mustafi? „Hah, das ist doch einer von uns!“ frohlockte der algerische Geheimdienst und lachte sich ins Fäustchen. Gerade noch rechtzeitig einen Schläfer beim Achtelfinal-Klassenfeind untergebracht. Im Wirrwarr der Zuständigkeiten weiß zwar keiner, wer dafür das goldene Dattelblatt ernten wird, aber es klingt zumindest nach einem durchtriebenen Schachzug. Zu diesem Zeitpunkt ahnt in Algier keiner, dass dies nur ein Teil der perfiden Doppelstrategie ist, die ein paar tausend Kilometer nördlich in der Otto-Fleck-Schneise (DFB-Headquarter) ausgeheckt wurde. Die ahnungslosen Algerier sollen instrumentalisiert werden um die Franzosen so sehr in Sicherheit zu wiegen, dass die schon vor dem Halbfinale die gelungene Revanche für Sevilla 1982 (#Jacketkronen) ausschweifend feiern, nur um dann am Freitag vom wiedererstarkten rechtsrheinischen Nachbarn an die Wand genagelt zu werden.

Dass die Strategie schon in der ersten Halbzeit voll einschlagen würde, konnten selbst die kühnsten DFB-Chefideologen nicht ahnen. Mario Götze, Benny Höwedes und eben jener Mustafi verrichteten aber auch einen Top-Job. Ein unauffälliger Stellungsfehler hier, ein zarter Stolperer dort, ein scheinbar missratenes Dribbling und schon war das Spielgerät wieder erfolgreich den Jungs in den grünen DFB-Auswärtstrikots untergejubelt worden. Es schien als stünde das Tor zur Hölle für den dreifachen Weltmeister meilenweit offen. Als dann in der Heimat die ersten Experten misstrauisch wurden und die große Verschwörung aufzufliegen und zu scheitern drohte, wurde der Bundestrainer gezwungen - wider seines Naturell - Korrekturen am eigenen Matchplan vorzunehmen.

Der nicht eingeweihte André Schürrle wurde auf’s Feld geschickt, schließlich musste ja doch noch irgendwie das Siegtor fallen. Da dies auf sich warten ließ, wurde sicherheitshalber Per Kampfdrohne Shkodran Mustafi außer Gefecht gesetzt und Philipp Lahm übernahm die Position des rechten Verteidigers von Manuel Neuer. Das reichte! Die Franzosen hatten genug gesehen und lagen schon siegesgewiss in den Armen der Mademoiselles von Brasilia.
Fortan ging es nur noch darum durch weitere Slapsticknummern auch den Gastgebern und der Konkurrenz aus Kolumbien totale Inkompetenz vorzugaukeln.

Den Höhepunkt der Riesenverarsche bildete eine absurde Freistoßvariante, die die Fachwelt restlos davon überzeugte, dass diese teutonischen Rumpelfüßler in wenigen Tagen ausgemüllert haben dürften. Das Risiko bei der Scharade war kalkulierbar. Nach ihren ersten drei untauglichen Schüssen war klar, dass die Algerier das Tor nicht treffen würden. Wenn die nämlich nicht nur schnell, wendig und dribbelstark sondern auch torgefährlich wären, hätten sie längst die Weltherrschaft an sich gerissen. Haben sie aber nicht. Und so ließ man sie und die Welt knapp zwei Stunden in dem Glauben, dass Algerien diese Partie tatsächlich gewinnen könnte. Was für eine gigantische, historische Fehleinschätzung.

Und während Per Mertesacker auffällig lätschern sein Tagewerk gegen Islam Slimani verrichte, konzentrierte er sich in Wahrheit schon darauf, wie er demnächst Benzema und Girault in die Eistonne kloppen wird. Eine Meisterleistung.

Damit sind die Nationalmannschafts-Verantwortlichen endgültig in die Hall of Fame der größten Strategen der Weltgeschichte aufgerückt. Vor Löw stehen jetzt nur noch Sepp Herberger ("Heute ist es kein 3:8, heute ist es keine B-Mannschaft"), Hannibal von Karthago und Alexander, der Große. Und im Gegensatz zu den Genannten hat unser aller Bundestrainer noch Vertrag bis Katar22. Da wird noch einiges kommen! Dass dieser Schachzug auf dem Rücken der tapferen Nordafrikaner ausgetragen wurde, denen vorgetäuscht wurde als könnte Hier und Jetzt für sie was gehen? Nun gut, in 20 Jahren werden sie drüber lachen können. Außerdem lässt der DFB sich bekanntlich nicht lumpen. Als Trostpflaster erhält jeder Algier-Fighter seine individuelle Heat Map und nach dem WM-Triumph verfasst Oli B. in der BAMS einen offenen Brief, in dem die Tapferkeit der Wüstenfüchse belobigt und Löws Engagement als algerischer Nationaltrainer in seinem Spätherbst in Aussicht gestellt wird. Wenn das nicht die perfekteste aller Welten ist, welche dann?

Folge 6 (04.07.2014) – It’s the (Quarter-)Final Countdown

Für 24 der 32 Länder ist XX. Fußball-Weltmeisterschaft nur noch eine für sie mehr oder minder schöne Erinnerung. Sie durften bereits Heimreise und Urlaub antreten, können Füße und Seele baumeln lassen. Nach dem anfänglichen Schmerz über das eigene Ausscheiden, ist diese Erholung ein nicht zu unterschätzendes Trostpflaster. Denn viele Mannschaften zelebrierten bei dieser WM hemmungslosen Dauerrenner-Fußball im Wild-West-Stil. Volles Tempo und kaum kontrolliertes Mittelfeldspiel. Sogar die vermeintlichen Mauerblümchen Costa Rica und Griechenland lieferten sich in ihrer epischen Achtelfinal-Schlacht dramatische Zweikämpfe bis zum Schlußpfiff.

Viele Spiele waren größtenteils rasant, teilweise von exzellenter Qualität. Trotz hoher Temperaturen und schwüler Luft rannten die Spieler rauf und runter. Von diesem kraftraubenden Stil erschöpft, dürfen die meisten Teilnehmer ihre Batterien wieder aufladen bis auf eben jene acht Teams, die es ins Viertelfinale geschafft haben. Für vier von ihnen wird die WM der Schmerzen morgen vorbei sein. Ihre Freude wird sich in Grenzen halten, denn wer jetzt noch dabei ist, der will auch unter allen Umständen Weltmeister werden. Da sich bislang kein Favorit herauskristallisiert hat, sind nicht weniger als sechs von ihnen auch durchaus in der Lage dazu, zwei allerdings nicht – für Costa Rica und – surprise, surprise - Brasilien endet der WM-Traum definitiv an diesem Wochenende. Doch dazu später mehr.

Wie vor jedem Sportereignis üblich, stimmte auch im Vorfeld von Brasilien 2014 der Chor der Warner und Mahner alle denkbaren düsteren Prophezeiungen an. Sowohl organisatorischer als auch sportlicher Art: Der Zeitplan hinkt hinterher. Die Stadien werden nicht fertig. Die Infrastruktur wird zusammenbrechen. Sicherheitskonzept und Finanzierung sind natürlich bestenfalls ein Witz. Und das Wetter wird auf gar keinen Fall mitspielen. Kurzum, es wird alles ganz schrecklich. Es sollte anders kommen. Die Obergurus, unter ihnen DFB-Chefscout Urs Siegenthaler, lagen mal wieder meilenweit daneben.

Auch wenn die wichtigsten Spiele noch ausstehen, gehe ich davon aus, dass auch in ihnen das drinstecken wird, was diese Weltmeisterschaft so packend und unverwechselbar macht: Mutiger, temporeicher Fußball, Chancen in Hülle und Fülle – und ein Finish voller Leidenschaft und Energie. Verglichen mit dem, was vorher nicht zuletzt aus dem deutschen Lager zu hören war, ist diese WM ein Spektakel. Kühlen Kalkül-Fußball, der sich aus Sorge vor den körperlichen Strapazen und Belastungen vor allem auf Sicherheit konzentriert, hat es in den brasilianischen Arenen selten gegeben. Und wenn Teams meinten, sie müssten sich zuallererst für spätere Aufgaben zurückhalten, dann war wie im Falle des kläglich gescheiterten Titelverteidigers Spanien ein jähes Ende nahe. Die Deutschen mit ihrem auf maximale Schonung bedachten Breitwandfußball kamen bislang ungestraft davon, mussten aber gegen Ghana und Algerien zwei Mal in die wilde Feldschlacht überwechseln um ein Waterloo abzuwenden. Fazit: DE kann nicht Afrika. Zum Glück sind deren Vertreter inzwischen alle daheim.

Nun aber zu den Titelchancen der Viertelfinalisten:

8. Costa Rica: Ende eines Fußballmärchens...

Dieser äußerst sympathische Underdog aus Mittelamerika ist die größte Überraschung des Turniers. Die Ticos ließen sich in ihrer Gruppe auch nicht von drei Ex-Weltmeistern bezwingen. Selbst die zunehmend stärker gewordenen Griechen konnten trotz Überzahl nicht den siegbringenden Treffer gegen diesen Teufelskerl Navas erzielen. Es war schon bemerkenswert, wie CR sich auf der letzten Rille ins Elfmeterschießen rettete. Noch famoser war die Qualität der fünf verwandelten Strafstöße. Dennoch, trotz ihrer effizienten Spielweise und der starken Defensive wird ihr WM-Schnupperkurs von den Niederlanden beendet werden. Beide Teams gehören zu den immerhin vier Viertelfinalisten, die sich noch nie die WM-Krone aufsetzen konnten. Nach dem direkten Aufeinandertreffen, wird zumindest Oranje den Traum vom ersten Titel weiterträumen können.

7. Brasilien: Heulsusenalarm!

Die Selecao hat genau zwei unüberwindbar scheinende Probleme, die mit ziemlicher Sicherheit zum vorzeitigen WM-Aus führen werden. Augenfällig ist die angekratzte Seele. Die anscheinend überbordende Erwartungshaltung im 200-Mio-Volk führt bei Neymar & Co. zu ständigen Heulkrämpfen und pathetischen Auswüchsen, die die Grenze zum Unerträglichen schon längst überschritten haben. Ich bemerke das in meinem Umfeld: Beim Schlagabtausch mit widerspenstigen Chilenen war der komplett versammelte Ethikrat für den Außenseiter und fremdelte stark mit den zu nah am Wasser gebauten Gastgebern. Coach Scolari ließ zwar verlauten, dass nun „Schluß sei mit der Heulerei“, aber allein es fehlt der Glaube. Gravierender ist aber noch das zweite Problem des Rekordtitelträgers: Kolumbien! Das Team des argentinischen Trainers José Pekerman dürfte spielerisch und auch mental überlegen sein. Vor allem wenn man bedenkt, dass Brasilien in der Offensive der Schuh drückt: In vorderster Front versucht man mit einem Unsichtbaren (Fred), mit einem Teilnahmslosen (Joe) und mit einem groben Klotz (Hulk) zum Erfolg zu kommen. Wenn man diese traurigen Gestalten mit den 80er-Jahre-Heroen um Zico, Socrates und Falcao vergleicht, denen bei Weltmeisterschaften zwar auch die Krönung versagt blieb, die aber echte Ausnahmekönner waren, kann man schon traurig werden. Superstar Neymar bildet da noch fast eine rühmliche Ausnahme, wenngleich er mehr ein Nike- und Social-Media-Produkt ist als ein Weltklasse-Kicker. Um jemals in einem Atemzug mit den wirklich Großen genannt werden zu können, fehlt ihm doch einiges. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass die Ausrichter-Nation ins Halbfinale einzieht. Vor allem, wenn sie sich ins Elfmeterschießen retten, aber spätestens in der Vorschlußrunde wäre dann gegen ein starkes europäisches Team Schluß.

6. Frankreich: Mit Glück ins Viertelfinale

Lustiger weise hat es die Grande Nation immer mindestens in ein WM-Halbfinale geschafft, wenn sie die Vorrunde überstanden hat. Das ist keine gute Nachricht für Deutschland, aber auch die einzig schlechte. Die Franzosen haben ohne Zweifel eine starke Truppe beisammen, einen Trainer, der bislang bei Weltmeisterschaften unbesiegt blieb (inklusive seiner Zeit als Spieler) und sie haben gegen die Schweiz ihre beeindruckende Qualität präsentiert. Aber in ihrem Achtelfinale gegen Nigeria fand ich sie phasenweise extrem schwach. Erst als der quirlige Antoine Griezmann eingewechselt wurde, blühte an seiner Seite auch Karim Benzema auf. Der 2:0-Sieg kam trotzdem nur unter gütiger Mithilfe der Nigerianer zustande. Ein katastrophaler Torwartfehler und ein Eigentor besiegelten deren Schicksal. Auch muss man sich davor hüten, Benzema nun als Welttorjäger Nummer 1 anzukündigen. Es sollte nicht vergessen werden, dass er 2013 mehr als 1.200 Minuten kein Tor für die Equipe Tricolore erzielen konnte. Immerhin hat Coach Didier Deschamps aus einem zerstrittenen Haufen eine Einheit geformt. Erweckungserlebnis war dabei sicher das Relegationsrückspiel als die Ukraine mit 3:0 doch noch ausgeschaltet werden konnte. Fazit: Frankreich ist sehr gefährlich und kann – an einem guten Tag - ohne Weiteres Deutschland besiegen. Aber selbst wenn dies gelingen sollte, hat nach meiner Meinung diese Mannschaft nicht das Potential und auch nicht die mentale Härte um den Titel zu holen.

5. Argentinien: Messi und wer sonst?

Manchmal erwische ich mich dabei wie ich Fußball-Quiz mit mir selbst spiele. Eine Frage lautet: Nenne drei aktuelle argentinische Nationalspieler neben Messi! Nichts Leichteres als das, denke ich mir im ersten Moment: Angel di Maria, Gonzales Higurain kennt man von Real Madrid. Hm, wen noch? Mascherano! Der ist Kapitän und auch ein bekanntes Gesicht aus Barcelona und Liverpool. Test bestanden. Aber ganz ehrlich, mehr hätte ich ad hoc auch nicht nennen können. Und das ist auch das Problem der Albiceleste - sie sind eine Ansammlung vor allem namenloser Durchschnittskicker. Messi und di Maria machen dann zwar den Unterschied in der letzten Sekunde der Verlängerung gegen die Schweiz, aber zweifelhaft ob das zum ganz großen Wurf reicht. Ich glaube nicht, denn sie treffen auf formstarke Belgier, die - neben Kolumbien - als einziges Team bei dieser Weltmeisterschaft bislang alle vier Spiele gewinnen konnten. Darüber hinaus glaube ich immer noch an eine große Messi-Verschwörung. Der ist bestimmt gar nicht so gut, wie immer alle tun. Meistens erlebe ich ihn nur aus Zusammenfassungen irgendwelcher Barca-Spiele, wenn er gegen Fallobst aus Osasuna oder Elche angeblich einen Hattrick nach dem anderen zieht. Wer überprüft denn hierzulande schon, ob es sich nicht um Fakes handelt? Mit Photoshop geht heutzutage doch alles. In den Live-Spielen, die ich von ihm gesehen habe (z.B. gegen Chelsea), ist er mir nie nennenswert aufgefallen. Aber ich verspreche, dass ich morgen nochmal ein Extra-Auge auf die Messi-Cam werfen werde. Dennoch, die Belgier sind zu stark und werden die Südamerikaner aus dem Turnier kegeln.

4. Kolumbien: Anything goes!

Kolumbien verkörpert zurzeit am ehesten südamerikanische Wucht gepaart mit individueller Extraklasse. Mit James Rodriguez (AS Monaco) hat Kolumbien den besten Torschützen des Turniers (5), mit Juan Cuadrado (Florenz) den besten Vorbereiter (4). Die Mannschaft hat einen klaren Plan, verteidigt kompakt, kontert überfallartig, aber kontrolliert. Ich lege mich fest: Wenn Deutschland nicht Weltmeister wird, dann holen sich die Kolumbianer den Welt-Pokal. Abzuwarten bleibt nur, wie das heimische Publikum mit ihnen umgehen wird, nachdem sie für Brasilien den Party-Schreck gespielt haben.

3. Belgien: Eine wahrscheinliche Sensation

Die roten Teufel aus unserem kleinen Nachbarland sind ja schon als Geheimtipp in die WM gestartet. Nach leichten Anlaufschwierigkeiten wurden sie dieser Rolle auch zunehmend gerecht. Trainer Wilmots hat wirklich eine extrem talentierte Truppe um sich versammelt. Auch wenn es abgedroschen klingt, aber sie verfügen wahrlich über eine Goldene Generation. Wenn sie noch effektiver zu Werke gehen, dann wird ihr Weg morgen auch noch nicht zu Ende sein. Nachdem sie seit Mitte der 80er Jahre aber so überhaupt keine Rolle mehr in der Weltspitze gespielt haben, hätte noch vor 2-3 Jahren die Prognose, dass Belgien tatsächlich mal Weltmeister werden kann, so viel Kopfschütteln hervorgerufen, wie die Chancen des 1. FC Köln auf den Gewinn der ersten Deutschen Meisterschaft seit 1978. Mit zielstrebigem und schnörkellosem Fußball werden die Belgier Argentinien schachmatt setzen und dann kommt es zu einem Halbfinale mit den ungeliebten Nachbarn aus den Niederlanden.

2. Niederlande: Halbfinale bereits gebucht!

Sie waren eigentlich schon ausgeschieden. Doch dann zeigten die Oranjes gegen Mexico die nötige Stehauf-Qualität. Klar, es war auch eine gehörige Portion unverschämtes Glück dabei. Aber wer ängstlich ist und ständig zaudert, wird nie Glück haben, geschweige denn was Bedeutendes gewinnen. 2010 sind die Holländer zu Recht nicht Weltmeister geworden, weil sie den Titel mit Brutalo-Fußball erzwingen wollten. Für mich waren sie 2014 ein sicherer Kandidat auf ein frühes Scheitern in ihrer Todesgruppe. Ich muss zugeben, dass ich mich da fundamental getäuscht habe. Robben & Co. können es diesmal packen. Möglicherweise werden sie am Ende über die größten Kraftreserven verfügen. Sie konnten immerhin im Achtelfinale eine Verlängerung vermeiden und auch in der Runde der letzten acht werden sie gegen Costa Rica nicht an ihre Grenzen oder womöglich noch darüber hinaus gehen müssen. Das könnte der entscheidende Vorteil für sie sein.

1. Deutschland: Tod oder Gladiolen

Irritierend fand ich, dass der DFB-Troß zwischen dem Achtelfinale im südlichen Porto Alegro und dem heutigen Auftritt in Rio, zu dem sie aufgrund der FIFA-Statuten zwei Tage vorher anreisen müssen, für nur einen Tag ins - im heißen Nordosten gelegene Campo Bahia - „heimkehrte“. Wie leicht kann sich da einer (oder sogar sieben!) der gleichermaßen hoch talentierten, wie zartbesaiteten deutschen Profis einen grippalen Infekt einfangen? Nun gut, unter den Spezialkräften Löw und Bierhoff muss es wohl immer einen Sonder(baren)weg geben. Und die verrückte Reiserei scheint ja nun doch die Chancen auf’s Weiterkommen nicht geschmälert zu haben, ist doch die Grippewelle bereits wieder abgeklungen bevor sie eine komplette Elf auf’s Krankenlager werfen konnte. Daher betont der Bundestrainer auch völlig zu Recht „Wir sind gut vorbereitet, siegessicher, selbstbewusst" und prophezeit wagemutig: "Wir werden unter die letzten Vier kommen." Ich werde ihn an diesen Worten messen! Dabei kann eine gewisse Wagenburgmentalität helfen, die sich anscheinend gerade innerhalb des Teams entwickelt, das sich zu stark von Medien und Öffentlichkeit kritisiert sieht und sich, wie Thomas Müller es formuliert hat, auf keinen Fall für den Weltmeistertitel entschuldigen möchte. Aber noch ist es nicht soweit, denn bis zum großen Ziel warten noch drei schwere Brocken, gegen die Algerien wie ein kleines Maulwurfhügelchen erscheint. Um die zu bezwingen, hilft jetzt keine Kaffeesatzleserei mehr über die optimale Aufstellung. Oder darüber ob der Löw jetzt stur und beratungsresistent ist oder vielleicht sogar doch bereit ist alle zuletzt entwickelten Prinzipien und Strategien über Bord zu werfen um nach 24 Jahren endlich wieder den Cup nachhause zu holen. Denn nur darum geht’s: Wir wollen endlich wieder Weltmeister sein! Also Jungens, macht es so wie damals! Heute ist der 4. Juli (#WundervonBern). Dieses Datum verpflichtet. Aber dreht nicht so viele Kringel und verzichtet auf überflüssige Haken. Wenn ihr nicht wisst wohin mit der Pille – einfach mal ins Tor damit. Dann klappt das auch mit dem vierten Stern!

Folge 7 (08.07.2014) – Ein Statistik-Papst dankt ab

Zu all den in der Mehrzahl verzichtbaren Gurus dieser Welt hat sich nun auch noch ein Statistik-Guru gesellt: Nate Silver vom US-Sportsender ESPN prophezeit schonungslos Deutschlands sofortiges Halbfinal-Aus. Nun könnte man ihn in die Kammer mit all den anderen Irren sperren, die sich mit ihren verrückten Prophezeiungen 15 Minuten Ruhm abholen und ansonsten nur der Lächerlichkeit preisgeben. Aber zwei Dinge lassen dann doch aufhorchen. Erstens hat der Silver-Boy 2012 in 50 (!) US-Bundesstaaten den Ausgang der Präsidentschaftswahlen richtig vorhergesagt. Das war also mal locker eine 100%tige Trefferquote. Zweitens hat er in seine Berechnungen einfließen lassen, dass Brasilien seit 1975 (!) kein Pflichtspiel mehr dahoam verloren hat. Ein beachtlich langer Zeitraum. Das stimmt dann doch nachdenklich. Aber zum Glück wird Marcelo diese Daten nicht kennen, wenn er wieder zum Eigentor ansetzt. Ebensowenig wird ein Mats Hummels sich dadurch von seinen wuchtigen Kopfstößen abhalten lassen. Natürlich gibt es im deutschen Team ohnehin leider mehr als genug unsichere Kantonisten, von denen jetzt, vier Stunden vor Spielbeginn, noch nicht bekannt ist, welche Rolle der Bundestrainer ihnen für dieses Gigantentreffen zugedacht hat. Özils und Götzes Auftritte könnten schwachbrüstiger kaum sein. Zudem ist fraglich ob Khedira und Bastian Schweinsteiger wirklich Power für einen epischen Abnutzungskampf haben werden? Und was wird aus dem alten Mann (Klose) und seiner Jagd nach Tor Nummer 16, das ewigen Ruhm verheißen wird? Die Frage aller Fragen lautet aber: Sind die Brasilianer wirklich so schlecht, wie sie es bisher angedeutet haben? Zweifel sind angebracht, aber in paar Stunden, wenn der Vorhang fällt, werden wir schlauer sein. Bis dahin gilt es irgendwie mit der fürchterlichen Nervosität klarzukommen. Dabei hilft vielleicht eine kleine Zeitreise zurück in die dt. WM-Historie. In der trifft man immer wieder auf Konstellationen, wo unsere „Turniermannschaft“ tatsächlich aufgrund spielerischer Defizite Außenseiter war und sich genau dann im Auge der Kritik zu phantastischen Leistungen aufgeschwungen hat. So wusste auch 1986 keiner wie genau es passieren konnte, aber plötzlich standen wir im Halbfinale. Niemand setzte einen Pfifferling auf uns, weltweit wurden die tollen Franzosen glorifiziert. Doch dann wurden die Gallier von Briegel, Magath, Schumacher & Co. schön mit 2:0 abgekocht. Ähnliches ereignete sich 2002 als die Brasilianer aufgrund ihrer Favoritenstellung praktisch schon vor dem Finale gegen uns den Weltmeister-Pokal ausgehändigt bekommen sollten. Sie wurden dann aber nach allen Regeln der Kunst von DE an die Wand gespielt bis, ja bis der Titan einen Schlappschuß Rivaldos nicht festhalten konnte. Der Rest ist bekannt und schmerzt noch heute. Nun haben sich Löws Mannen auch bei dieser WM nur sporadisch mit Ruhm bekleckert, aber dafür Effizienz, Kampfgeist und mentale Stärke bewiesen. 13 Halbfinal-Teilnahmen, davon jetzt vier in Serie. Das sind auch beeindruckende Statistiken, die bei Silver nicht vorkommen und auf die keine andere Nation verweisen kann. Nur wir. Ich finde, wir sollten stolz und dankbar sein, dass sich unsere Nationalelf seit Jahrzehnten so achtbar schlägt und weltweit respektiert wird. Wir wollen jetzt auch noch die beiden letzten Schritte ins Finale und zum Titelgewinn gehen. Dann wäre doch noch alles gut geworden, nachdem man zwischendurch schon ein wenig ins Schleudern geraten war. Aber eines darf man auch nicht übersehen. Dieses Team hat sich extremst den Arsch aufgerissen und einen enormen Spirit entwickelt. Sie und wir sollten dafür belohnt werden. Schon heute und am Sonntag! Ein WM-Titel durch Siege über Frankreich, Brasilien und die Niederlande oder Argentinien ist die größte vorstellbare sportliche Leistung des Universums. Er wäre unendlich wertvoll. Los Männer, schnappt ihn Euch.

Folge 8 (10.07.2014) – Daniel Cartus, der Miro und ich...

Persönlicher Flashback in den Winter 2000:
Auf einem Nebenplatz des Fritz-Walter-Stadions empfängt die zweite Mannschaft des ruhmreichen 1. FC Kaiserslautern meine mittlerweile in die drittklassige Bedeutungslosigkeit abgerutschte Düsseldorfer Fortuna. Die beschauliche Atmosphäre der Regionalliga West bietet normalerweise keinen Raum für spektakuläre Attraktionen. Weder die 1.100 Zuschauer noch die Spieler selbst, rechnen an diesem Tage damit, etwas ganz Besonderem beizuwohnen. Die Herren Cartus, Fregene und Vossen verrichten ihre Arbeit, auf Düsseldorfer Seite, mehr schlecht als recht, wie an jedem anderen x-beliebigen Samstag auch. Dennoch: Kurz vor Schluss passiert beinah Historisches - die Fortuna kassiert das 1:1. Schütze des Lauterer Ausgleichstores ist ein gewisser Miroslav Klose! Der Gedanke, dabei gewesen zu sein, als sich aus der Mitte eines mäßigen Kicks ein Mann erhob, um ein Gigant und 14,5 Jahre später Rekordtorschütze aller Weltmeisterschaften zu werden, erfüllt mich mit einer wohligen Gänsehaut, aber auch mit Stolz dabei gewesen zu sein. Die Frage, warum ausgerechnet er und nicht Daniel Cartus oder ich zu Höherem berufen wurden, stellt sich für mich nicht. Miro hat immer alles gegeben und er hat es mehr verdient als jeder andere. Ihm ist es sogar zu gönnen, Gerd Müller, den einzigartigen Bomber der Nation vom Olymp gestoßen zu haben, was Klose in seiner angenehm bescheidenden Art ja nicht mal wahrhaben will. Die bloße Vorstellung den großen Miroslav Klose eines - hoffentlich fernen Tages - nicht mehr im Trikot der Deutschen Nationalmannschaft stürmen zu sehen, ist so falsch, so unvorstellbar und so schmerzhaft, dass ich fast gewillt wäre den vierten Stern gegen noch viele weitere Klose-Tore einzutauschen, aber nur fast, denn auch darin ist Miroslav vorbildlich: er würde niemals seinen persönlichen Triumph über den seiner Mannschaft stellen. Danke für 14 wunderbaren Jahre mit Dir, Miro!

Folge 9 (11.07.2014) – Ein außerirdisches Vergnügen

In ferner Zukunft, wird unweigerlich der Tag kommen, an dem die Erde unbewohnbar und von einer kilometerdicken Schlacke-Schicht überzogen sein wird. Irgendwann werden dann einmal Außerirdische auf ihrem Weg durch die Galaxien auf unserem Ex-Planeten landen und zu vielfältigen und großzügigen Ausgrabungen ansetzen. Sobald sie auf die ersten Knochen stoßen, werden sie wissen wollen, was diese Homo-Sapiens-Leute denn so getrieben haben. Wenn sie ihr Werk wirklich gewissenhaft verrichten, werden sie früher oder später auf Gedenktafeln stoßen, die vom größten Auftritt einer Fußballtruppe aller Zeiten verkünden: Es geschah in der Nacht des 8. Juli 2014, in der eine Mannschaft von außerirdischer Qualität über das bedauernswerte Brasilien hinweg gefegt ist, wie Feuer und Schwefel im Alten Testament über das arme Sodom und das noch viel ärmere Gomorra. Die beschauliche Metropole Belo Horizonte stand bis dahin zwar nicht in Verdacht der Nabel der Welt zu sein, aber damals schaute das ganze Universum auf diese Stadt, als dort Geschichte geschrieben wurde. Angeführt von ihrem alles überstrahlenden Mittelfeld-Kraftwerk bestehend aus Bastian Schweinsteiger, Toni Kroos und Sami Khedira bot die DFB-Elf eine, bis dahin auf diesem eigentlich ausgeglichenen Weltklasse-Niveau, in dem für gewöhnlich nur Marginalien den Sieg bringen, nie gesehene Spielkunst, die von Thomas Müller, André Schürrle und Miroslav Klose veredelt wurde.

Ein 7:1 gegen Brasilien, zumal auf deren seit 1975 unbefleckter Heimaterde und das noch in einem Halbfinale, ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Dennoch ist es geschehen! Warum? Übermannt von den seit Turnierbeginn bis zum Exzess ausgelebten Emotionen und dem Pathos sind die vermeintlichen Wunderknaben der Selecao auseinandergenommen worden wie unreife Schulbuben. Man wird das Gefühl nicht los, dass die beim inbrünstigen Accapella-Singen der Hymne, beim Flatrate-Heulen und den Dauerstoßgebeten gen Himmel ihre Kraft und Konzentration verloren haben. Und ihren Glauben, denn wer permanent betet, also um göttlichen Beistand bittet, glaubt zu wenig an sich selbst und seine Stärken. Die SZ schreibt sogar von der schlechtesten Spielergeneration des fünffachen Weltmeisters seit den 50er Jahren. Das ist völliger Blödsinn. Man betrachte nur mal den Marktwert der einzelnen Spieler und welchen Vereinen sie angehören. David Luiz, Thiago Silva, Neymar, Marcelo, Maicon, Fernandinho oder Paulinho holen ihr Geld bei den größten europäischen Vereinen mit der Schubkarre ab. Zudem haben sie noch 2013 sehr stilvoll den CONFED-Cup gewonnen mit 3:0 gegen Weltmeister Spanien, den sie doch so gerne entthronen wollten. Aber es bewahrheitete sich erneut, dass der CONFED-Sieger nicht anschließend auch noch die WM gewinnen kann. Unbestritten, fällt diese Seleção verglichen mit früheren brasilianischen Teams komplett ab. Ungefähr bis auf das Niveau jener der WM74. Das war bis auf wenige Ausnahmen auch eine Rumpelfüsslertruppe, relativ gesehen natürlich.

Man darf auch nicht alles auf das Fred-Problem schieben. Der hölzerne Stürmer von Fluminense, gegen den Pinocchio (AC Florenz) geschmeidig wie ein Panther daherkommt, ist nur das Symbol für eine verlorene Generation an Weltklasse-Angreifern im immer noch größten Land des Fußballs. Es wäre Aufgabe von Coach Felipe Scolari gewesen, den unglückseligen Fred zu schützen. Aber niemand kann erwarten, dass Fred auf seinen Einsatz verzichtet, weil er sich selbst für zu schlecht hält. Sei es drum. Die Follower der DFB-Elf müssen diese Glanzstunde einfach so lange wie möglich genießen und in Gedächtnis und im Herzen abspeichern, denn so eine Vorstellung voller Anmut, Verve, Kühnheit, Effizienz, Top-Qualität und Schönheit kommt nie wieder. Zusätzlich haben die Deutschen (inkl. Fans) an diesem Abend aber auch ALLES richtig gemacht, was letztlich sogar zu Respektbekundungen und Anfeuerungen durch das Heimpublikum führte – dem wohl größten Gunstbeweis im Sport. Deutschland demütigte den Gegner, ohne ihm seine Ehre zu nehmen und bleibt dabei selbst demütig gegenüber dem Spiel und den Menschen der Gastgeber-Nation. Ein nie erreichter Spagat. Dafür kann es zur Belohnung nichts Geringeres als die Weltmeisterkrone geben. Das werden sicher auch die Bürger südlich des Rio de la Platas einsehen.

Analog zu anderen Sternstunden, wie der Mondlandung, dem Fall der Berliner Mauer oder dem ersten Wimbledon-Triumphes eines 17-Jährigen Leimeners werden launige Party-Gespräche ab sofort mit der Frage „Wo warst Du als Deutschland Brasilien zu Hackfleisch verarbeitet hat?“ an Fahrt gewinnen. Manche Zeitgenossen werden dann verschüchtert zugeben müssen, dass sie zur Unzeit das Klo aufgesucht oder ein quengeligen Nachwuchs zu Bett gebracht haben. Und diese unglückseligen Tropfe haben durch ihr ganz schlechtes Timing locker drei bis vier Tore verpasst. Mit dem Abstand von 10-20 Jahren wird es ihnen fast schon wieder lustig erscheinen.

Es war ja zu befürchten, dass es dank der denkwürdigen Phase zwischen der 23. und 29. Minute in der internationalen Presslandschaft wieder von Blitzkrieg-Metaphern wimmeln würde. Glücklicherweise ließ sich nur eine Publikation zu diesem unseligen Vergleich herab, und die kam nicht mal aus England, sondern nur aus den USA. Seufz, irgendwie ist auch nichts mehr wie früher. Jedenfalls eine Phase, in der nicht nur ein Toilettengang für den Zuschauer fatal war sondern auch eine Zeitspanne, in der eine Nation ihren Stolz verlor. In der die Deutschen den Gegner vorführten, überrannten, ausspielten, fix und fertig machten. Vier Mal kombinierten sich die Spieler in den rot-schwarzen Trikots mit schneidenden Pässen in Serie bis in den Strafraum hinein. Bis das Tor von Júlio César so leer vor ihnen stand, dass nicht einmal Orakel Paul mit seinen Krakententakeln die Tore verhindert hätte, wenn er denn 2010 nicht zu Fischfutter verarbeitet worden wäre. 2:0 Klose - Zack! und nur wenige Atemaussetzer später sogar das 5:0 durch Khedira – Bämm! Zwischendurch 3:0 und 4:0 durch Toni Kroos. Wobei ich mir bei Letzterem nicht sicher war, ob es sich nicht vielleicht doch nur um eine Illusion gehandelt hat, denn das vermeintliche 4:0 war für mich (lange Zeit) definitiv nur die Wiederholung des 3:0. Noch in einer Jubeltraube klemmend, erblickte ich aus dem Augenwinkel, dass sich der Kroos Toni erneut frei vorm Tor befand und elegant verwandelte. Ich verweigerte den Jubel und es bedurfte der ganzen Überzeugungskraft meiner Freunde bis ich einsah, dass wir tatsächlich Zeugen eines echten Doppelpacks von Magier Kroos geworden waren.

Als es nach dem Pausentee noch mal kitzlig wurde, war ich nicht nur dem bärenstarken Manuel Neuer dankbar, dass sich das Schweden-Desaster nicht wiederholte, sondern auch dem überragenden mexikanischen Schiedsrichter Marco Rodriguez, dem man im Vorfeld etwas voreilig unterstellt hatte, dass er im Zweifel die Gastgeber ins Finale pfeifen würde. Man muss eine Lanze für ihn und seine Zunft brechen, denn wie er standhaft blieb, als es die wütend anrennenden Einheimischen mit ihrer Fallsucht übertrieben und mit 4-5 hochnotpeinlichen Bernd-Höltzenbein-Gedächtnisschwalben versuchten einen Strafstoß zu schinden, war aller Ehren wert. In der Schlußphase war dann wieder Schaulaufen angesagt. Dem sensationellen Giebelschuß-Tor Schürrles hätte sogar noch das 8:0 durch Özil folgen müssen. Stattdessen verkürzte Oscar im Gegenzug. Man kann es kaum glauben, aber – und Mathematiker werden es bestätigen können, obwohl Fußball laut den zeitlosen Erkenntnissen von Karl-Heinz Rummenigge keine Mathematik ist - ein 8:0 ist mehr als das Doppelte als ein 7:1. Ein Sieg in dieser Höhe ist zwischen gleichstarken Mannschaften unmöglich! Impossible. Nada. Never. Ausgeschlossen. Wer 8:0 vom Platz gefegt wird, müsste eigentlich den Spielbetrieb einstellen. Man kann also konstatieren: Brasilien hat noch mal Glück gehabt und: Wer weiß wozu es gut war, dass DE und insbesondere Özil sich dieses Tor (für das Endspiel) aufgespart haben, wie einen ungenutzten Urlaubstag.

Jahrelang und immer wurde von unserem zur Nörgeligkeit neigenden Volke an fußballerischen Erfolgen rumgemäkelt und relativiert. 1990 und 1974 wurde der Titel nicht zuletzt durch amtliche Schwalben in den Finals errungen. Das war selbst hierzulande nicht allen Recht. Die Vizeweltmeisterschaft 2002 wurde nicht als Großtat einer schrecklich limitierten, aber ehrlich und aufopferungsvoll kämpfenden Truppe gewürdigt sondern schlichtem Losglück und dem frühen Ausscheiden sämtlicher Favoriten zugeschrieben. Als wenn Rudi Völlers Mannen irgendwas dafür gekonnt hätten, dass sich ihnen plötzlich nur noch die Exoten-Kombos aus Paraquay, USA und Korea in den Weg stellen wollten. Das waren nur wenige von unzähligen Beispielen, in denen die Motzkis und Meckerer ihr Mütchen kühlen wollten. Doch nach diesem perfekten Spiel für die Ewigkeit ist die Zeit der Relativierer endlich vorbei. Selbst nach einigen durchwachsenen Auftritten sucht ein Torverhältnis von 17:4 doch wohl seinesgleichen. Und zwei dieser Gegentreffer fielen sogar erst in der Schlußminute. 10 Tore in den bislang drei K.o.-Spielen (Mitfinalist ARG kommt auf läppische 2!). Dass die Deutschen nur noch einem Schritt vom vierten WM-Titel entfernt sind, kann man gar nicht hoch genug bewerten. Dass diese Mannschaft ihren Weg so weit gehen würde, war zu Beginn des Turniers nicht abzusehen. Schließlich begann alles unter schwierigen Umständen – mit einer Reihe von Verletzungen, die Löws Team ein bisschen länger mit sich herumschleppte, als es eigentlich gut gewesen wäre. Sie mussten darauf hoffen, dass die Zeit für sie spielen würde. Mit etwas Glück ging dieser Plan auf - und wie. Mit dem Frankeich-Spiel im Viertelfinale hatten die Deutschen nach schwankenden Wochen so richtig ins Turnier gefunden. Und doch war auch da beim besten Willen nicht abzusehen, dass der nächste Auftritt solch ein monumentaler sein würde. Löw hatte angekündigt, dass er nichts groß ändern und sich schon gar nicht nach dem Gegner richten wollte. Da hat er endlich doch noch aus Fehlern der Vergangeheit gelernt, als der Kotau vor den Gegnern Spanien (WM2010) und Italien (EM2012) das Ende aller Titel-Träume bedeutete. Dafür gehört ihm Dank und Anerkennnung verbunden mit der Hoffnung, das Ding auch im Finale eiskalt durchzuziehen, Messi Messi sein zu lassen und sich nicht nach den Südamerkanern zu richten. Dann könnte es wieder ein großer Festabend werden - nicht nur für Außerirdische.

Folge 10 (13.07.2014) – Please don’t cry, Argentina!

Nun also wieder Argentinien. War ja auch klar. Holland konnte gar nicht ins Finale einziehen, denn noch nie hat ein europäisches Team bei einer WM zwei Elfmeterschießen gewonnen. Das wusste Mijnheer van Gaal wahrscheinlich nicht, sonst hätte er seine Angreifer verstärkt auf den Siegtreffer drängen lassen. Aber außer eine zugegebenermaßen Riesenchance für Arjen Robben in der 118. Minute war da nix. Vielleicht ist es auch besser so. Ich kann mir kaum vorstellen, dass der Fußballgott die Elftal zum vierten Mal (nach 74, 78 und 2010) nur mit dem „Vizetitel“ abgespeist hätte. Schließlich hat auch ein anderer ewiger Zweiter (6x) aus dem Land der Grachten und Tulpen, Joep Zoetemelk, einmal (1980) die Tour de France gewinnen dürfen. Nicht nur im Vergleich zur Partie vom Vorabend war dieses 0:0 ein grausames Gewürge. Aber selbst das unwürdigste Halbfinale muss bekanntlich einen Sieger finden, denn schließlich kriegt der andere Finalist die Krone nicht kampflos auf dem Silbertablett überreicht.

Es ist bereits das dritte WM-Finale zwischen Deutschland und Argentinien und insgesamt das SIEBTE Aufeinandertreffen beider Länder bei Fußball-Weltmeisterschaften. Da werden haufenweise Erinnerungen wach. Nicht nur an die jüngere Vergangenheit als die DFB-Elf mal glücklich (2006 5:3 n.E.), mal überragend (2010 4:0) die Oberhand behielt. Sondern auch an 1986 und 1990. Vor 29 Jahren dominierte ein unvergleichlicher Diego Maradona das Turnier in Mexico, an dessen Ende seine Argentinier verdient gewannen. Dennoch: Die von Teamchef Franz Beckenbauer gecoachten Deutschen waren am 29. Juni 1986 ein würdiger Gegner im Azteken-Stadion. Toni Schumacher, noch wenige Tage zuvor Sieggarant gegen Frankreich, erwischte leider einen rabenschwarzen Tag und eine mißratenene Abseitsfalle und Diegos genialer Paß auf Burruchaga machten nach einer famosen Aufholjagd den Traum einer ganze Nation zunichte. Ich bin mir heute noch sicher, dass Hans-Peter Briegel den alleine auf Schumacher zu stürmenden Argentinier locker abgelaufen hätte, wenn er nicht mit einem frischen Muskelbündelriß ins Spiel gegangen wäre, den er vor den deutschen Ärzten verheimlicht hatte. Die Schmerzen die Briegel gespürt haben musste, habe ich in der Sekunde der 2:3-Niederlage geteilt als für mich eine Welt zusammenbrach. Ein Freund wollte mich mit den Worten: „Nimm es nicht so schwer, in vier Jahren ist wieder Weltmeisterschaft!“ trösten. Worauf ich nur noch flüsternd entgegnete: „In vier Jahren? Da bin ich 20. Da bin ich schon fast tot!“ Okay, vielleicht ein wenig zu melodramatisch, aber ich war schon immer sehr emotional was Fußball betrifft, und das wird sich vermutlich auch nicht mehr gravierend ändern.

Jahrelang habe ich nach einem Weg gesucht um mit der für mich bis dahin schlimmsten Niederlage fertig zu werden. Den einzig gangbaren Weg fand ich darin Respekt und Sympathie für den sportlichen Gegner zu entwickeln. Im Frühjahr 1990 bereiste ich drei Wochen Argentinien und habe mich in die Landschaft, die Leidenschaft der Menschen und insbesondere in das Lächeln und den Hüftschwung der Senoritas verliebt. In Buenos Aires pulsiert das Leben wie in kaum einer anderen Metropole. Dort herrscht eine atemberaubende Atmosphäre. Das Land hat mich verzaubert. Sogar das Trikot der Albiceleste kaufte ich mir und machte einen auf Cool Maradona. Sehnsuchtsort Argentinien – es half mir über die schwere Zeit hinweg.

Und dann kam Italia 90! Vier Jahre später – mein Freund hatte recht behalten, ich zum Glück nicht (denn ich war wider Erwarten mit 20 doch noch nicht scheintot) – war es dann tatsächlich soweit. In der magischen Nacht von Rom konnten wir den Südamerikanern den Pokal entreißen und uns die WM-Krone aufsetzen. Die Erinnerungen an 1990 begleiten mich noch heute. Der große Maradona hatte abgewirtschaftet, mit Claudio Caniggia war ihr einziger gefährlicher Akteur gesperrt und ihr Spielsystem war einzig auf schneidende Härte und Zerstörung ausgerichtet. Dass sie einmal in 90 Minuten auf unser Tor schießen würden, stand gar nicht zu befürchten. Letztendlich taten sie es auch nicht. Nie ging wohl seit den Ungarn 1954 ein Team als größerer Favorit in ein WM-Finale als die deutsche Nationalelf 1990. Man konnte dem Team aber anmerken, dass auch die Deutschen in der Endphase des Turniers Probleme mit dem Toreschießen bekamen. Brehmes 2:0 im Achtelfinale gegen Holland sollte das letzte Tor für uns bei dieser WM aus dem Spiel heraus gewesen sein. Und so musste auch im Finale ein Konzessionselfmeter herhalten um den überaus verdienten Sieg zu sichern. Da die Gauchos zusätzlich zwei Platzverweise kassierten, schrien sie natürlich Zeter und Mordio, witterten Betrug und schmiedeten Verschwörungstheorien. Pah! Unwichtige Nebenkriegsschauplätze. Deutschland war längst im einheitlichen WM-Rausch und der Kaiser stolzierte ebenso einsam wie majestätisch über den Rasen des Olympiastadions. Das waren göttliche Bilder. Unvergessen. Eines der schönsten Gefühle meines Lebens, auch wenn der Altphilologe Walter Jens ein Spiel gesehen haben wollte, dass nach seiner Meinung eher einer Begegnung zwischen Wattenscheid und Uerdingen (damals beide in der 1. Bundesliga) gleichkam. Mir war’s egal. Die Wunde von 1986 war geheilt.

Heute also zum Schluß eines tollen Turniers das große WM-Finale. Die WM der Strapazen hat uns allen zugesetzt. Es muss jetzt endlich los gehen. Diese Nervösität ist unerträglich. Vor allem weil man nirgends abschalten kann. Die WM-Berichterstattung wurde auf alle Kanäle ausgeweitet. Nicht mal Mona Lisa oder die Verkehrsnachrichten kommen ohne Finalvorschau aus (Stichwort: Autokorso). Die Spieler haben meine vollste Bewunderung dafür wie sie mit der Anspannung und dem Druck umgehen. Ich könnte das nicht. Ich lese jetzt nicht mal mehr die aktuellen Vorberichte, ebensowenig schalte ich den Verkehrsfunk ein. Aus Angst vor unerwarteten Verletzungsbulletins oder Krankmeldungen aus dem deutschen Lager. Ich will jetzt auch nicht mehr wissen, ob di Maria rechtzeitig fit wird. Was geschehen muss, wird auch geschehen. Auch die Kampfansagen des Gegners würden mir zu viel Angst einflößen, die ich so kurzfristig nicht mehr absorbieren könnte und die ganz sicher zu einer Lähmung meines zerebralen Nervensystems führen würde. Als ganz furchtbare Belastung empfinde ich auch Absonderungen a la „Warum Argentinien Weltmeister wird!“ bei SPIEGEL online oder doom-and-gloom-Postings bei Facebook im Stile von: „Das geht am Sonntag 100% schief!“ Also nehme ich das alles gar nicht mehr wahr. Tauche ein in meinen Tunnel, starre ins Nichts und wiederhole immer wieder dieselben Beruhigungsformeln.

Was zumindest mir Mut macht: Noch nie ist ein Land unverdient Weltmeister geworden. Am Ende setzte sich immer das Team durch, das (herzerfrischenden) Fussball spielen wollte und das waren bislang definitiv nicht die Argentinier. In vielen Endspielen standen sich die beste Mannschaft eines Turniers und ein Vertreter der Gewichtsklasse „Hate and Destruction“ gegenüber. Immer hat das Gute gesiegt! IMMER! Wer sich dem Fußball verweigert, muss bestraft werden. Das war ja selbst bei den beiden bisherigen Finals DE-ARG nicht anders.

Unsere Chancen stehen ja auch wahrlich nicht schlecht. Im ganzen Turnier gab es keine relevanten Verletzungen, keine Sperren. Man denke da nur an das deutsche Feldlazarett bei der EM 1996 als mit Jens Todt noch ein Spieler für das Finale nachnominiert werden durfte um überhaupt noch jemanden auf der Bank sitzen zu haben oder an die vernichtenden Sperren für Michael Ballack (2002), Torsten Frings (2006) und Thomas Müller (2010), die alle zur Unzeit kamen und den ein oder anderen deutschen Triumph verhinderten. Dass dies alles ausblieb, werte ich mal als Zeichen, dass der große Plan sich den vierten Stern anzuheften und als erstes europäisches Land auf dem amerikanischen Kontinent triumphieren zu können, aufgehen wird.

Löws Männer gehen mit dem Schwung eines 7:1-Spektakels ins Finale. Dieser Flow und das gewonnene Selbstvertrauen müsste sie eigentlich unbesiegbar machen. Darüberhinaus wirken sie so extremst – auch wenn es bereits das Zeug zum Unwort des Jahres hat - fokussiert. Dabei gleichzeitig locker und entspannt. Eigentlich hat man selten eine Mannschaft vor einem wichtigen Spiel erlebt, die so dermaßen die perfekte Mischung gefunden zu haben scheint wie unsere Jungs. Sie wollen sich den Titel nicht nehmen lassen. Nicht von diesen Argentiniern, die bislang sehr wenig geboten haben. Aber der Fußball ist nicht linear berechenbar. Aus einer monumentalen Überlegenheit in dem einen Spiel, ergibt sich nicht zwangsläufig eine ebensolche im nächsten. Ein Geniestreich durch den rätselhaften Spaziergänger Messi, ein schnelles Führungstor für die Gauchos und dann stünden wir vor der Herkulesaufgabe ihren äußerst defensivstarken Riegel zu knacken und um den Ausgleich zu kämpfen, so wie es die Belgier getan haben, letztendlich vergeblich. Auch wenn es ähnlich wie 1990 so scheint, als würden alle neutralen Fußballkenner uns für den ausgemachten, unvermeidlichen Sieger halten und die meisten davon uns auch den Titel gönnen, gilt – wir können das Finale auch verlieren. Argentina is extremely dangerous.

Und selbst wenn wir heute nicht Weltmeister werden sollten, so hätte dieses Team doch mehr erreicht, als ihm die meisten vorher zugetraut haben. Nur ich müsste wieder leiden, denn ich war mir so sicher, dass wir nach 24 unerträglich langen Jahren einfach mal wieder dran sind. In ein paar Stunden werden wir es wissen. Lasst uns bis dahin einfach total fokussiert bleiben!

Folge 11 (26.01.2015) – Weltmeister! schnief…

Doch wie konnte der große Triumph gelingen, nachdem wir schon einige Male seit 2006 mit der Hand an den Pokalen mehr oder weniger dicht, aber nie nah genug dran waren? Welche Rolle spielte das Glück, welche der Trainer? Die wenig sexy Bilder vom früh morgendlichen Strandläufer, Joachim Löw, haben sich zwar ungewollt in mein Großhirn eingebrannt, aber man muss ihm zweierlei zugutehalten. Zum einen hat er im Laufe des Turniers erstaunlich hinzugelernt. Er hat es verstanden falsche Entscheidungen zu revidieren oder sich zu welchen durchgerungen, die er möglicherweise zunächst für falsch gehalten hatte. Ob dies unter dem Druck der Öffentlichkeit, durch Insistieren von Jogi-Einflüsterern oder der Medizinmänner geschah, ist sekundär. Wichtig ist, was hinten rauskommt. Zudem gelang es ihm überaus eindrucksvoll die Mannschaft und den entscheidenden Spieler Götze zu motivieren („Zeig der Welt, dass Du besser als Messi bist!“). Aber wer weiß, vielleicht hat er auch Mertesacker solche großen und salbungsvollen Worte mit auf den Weg gegeben als Per in der drittletzten Minute das Feld betrat („Come on, Per. Nur Du bist der König der Welt. Go & express yourself!“). Wir werden es vermutlich nie erfahren. Und seine Ansprache ans Team hätte mit großer Wahrscheinlichkeit selbst aus Lazarus einen Olympioniken gemacht. „Ihr müsst heute so viel geben wie noch nie in Eurer Karriere. Dann werdet ihr das erreichen, was ihr noch nie hattet!“ Das hätten Herberger, Schön und Kaiser Franz nicht besser hinbekommen.

In Maracana begegneten sich zwei Teams auf vergleichbarem Niveau, ohne sich ein derart langweiliges Strategiespiel zu liefern, wie es Argentinien und Holland im Halbfinale getan hatten. Das Match lebte dabei weniger von feinen Spielzügen und atemberaubendem Kombinationsfußball, es lebte von der Spannung. Ein Duell, das die These widerlegte, dass nur Tore den Fußball würzen. Einem Duell, das seine Dramatik vorwiegend daraus bezog, dass die Null lange stand, auf beiden Seiten, und dass diese Null buchstäblich bis aufs Blut verteidigt wurde. Je länger das Finale dauerte, desto klarer wurde: Ein Geniestreich nur, ein Lucky Punch von Lionel Messi, Höwedes oder sonstwem, dann ist es vorbei. Wer das erste Tor kriegt, hat verloren, der kommt nicht mehr zurück.
Und Argentinien war brutal stark. Besser als jemals zuvor bei dieser WM. Lange waren Löws Mannen auf der Suche nach spielerischem Glanz und dem richtigen „Grip“. Fehlender Einsatz war den Deutschen ganz sicher nicht vorzuwerfen. So oft sind sie in den vergangenen Jahren kurz vor dem Ziel gestrauchelt. Diesmal wollten sie nicht wieder den anderen beim Jubeln zusehen und (nur) den Schönheitspreis abräumen. Demzufolge war ihre Entschlossenheit überirdisch. Auf einen zäheren, hartnäckigeren und ebenso zu allem entschlossenen Gegner hätten sie allerdings nicht treffen können.

Das packende Finale - ein Spiel auf Messers Schneide. Ein unglaublicher Fight. Beide Mannschaften liefern sich einen offenen Schlagabtausch. Kein Sieger nach 90 Minuten. Und was sollte dieses packende, mega-spannende Herzschlagfinale entscheiden? Der Wille? Die Kraft? Die Nerven oder pures Glück? Von allem ein bisschen – und Mario Götze.

Drei Minuten vor Ablauf der regulären Spielzeit endete die bemerkenswerte internationale Karriere eines großen Fußballers. Miroslav Klose, der Rekordtorschütze der WM-Geschichte, verließ unter tosendem Beifall den Platz. Für ihn kam eben jener Mario Götze, der bis dahin ein durchwachsenes Turnier erlebt hatte. Kaum zwanzig Minuten später gehört er, im zarten Alter von 22 Jahren, zu den großen Heroen des deutschen Fußballs. In der zweiten Halbzeit der Verlängerung gelang Götze der Treffer zum Titel. Und was für einer. Mit der Brust nahm er eine Flanke von André Schürrle an, und noch ehe der Ball den Boden berührte, spitzelte er ihn an Argentiniens Torhüter Sergio Romero zum 1:0 für die Deutschen ins Tor. Peng! Der Vater aller Siegtreffer in ästhetischer Perfektion. Genau zum richtigen Zeitpunkt landete der Ball im richtigen Tor. Der bisweilen etwas „glatte“ Nike-Botschafter aus Memmingen, nicht unbedingt, der auserkorene Liebling der Massen, wird fortan in einem Atemzug mit den ganz großen deutschen Finaltorschützen Helmut Rahn, Gerd Müller und Andy Brehme genannt werden. Es gibt sicherlich Schlimmeres.

Sein Treffer bescherte der Nationalmannschaft den vierten WM-Titel nach 1954, 1974 und 1990. Es ist die Krönung für eine Generation von Fußballern, die mit der Nationalmannschaft zwar erfolgreich war, die Angelegenheit bisher aber nie zu Ende bringen konnte. Es ist auch die Krönung für Bundestrainer Joachim Löw, der lange ein Verfechter des schönen Spiels war, sich in Brasilien aber zum Pragmatiker wandelte – und der nun den Vorwurf entkräftete, mit ihm sei nichts zu gewinnen. Boateng, Hummels, Neuer, aber vor allem auch Schweini und der Schütze des alles entscheidenden Tores sind in den Olymp der Fußballhelden eingegangen. Dieses Märchen ist ihr ganz persönliches Heldenepos, an dessen Ende ein stilles Versprechen endlich eingelöst wurde, woran viele Beobachter nicht mehr geglaubt haben dürften.

Dieses unfassbare Spiel wird auf ewig untrennbar mit ihren Namen und nicht mit dem des vierfachen Weltfussballers Messi verbunden sein, der aus Vermarktungsaspekten von der FIFA lächerlicherweise zum besten Spieler des Turniers bestimmt wurde. Und obwohl auch in Zukunft alle Fans über Götze und den entscheidenden Treffer reden werden, war gegen die Argentinier Bastian Schweinsteiger der überragende und prägende DFB-Akteur. Mit Christoph Kramer als kurzfristiger Khedira-Ersatz bekam der 29-Jährige Ur-Bayer einen jungen und unerfahrenen Spieler zur Seite gestellt, der seine Aufgabe zwar ordentlich erledigte, in der 30. Minute aber verletzt ausschied, nachdem er bereits eine gute Viertelstunde zuvor bei einem Brutalo-Check von Ezequiel Garay zu Boden gegangen war und danach wie eine außer Kontrolle geratenen Pershing über den Platz irrlichterte. Also entschied sich Schweinsteiger, die Aufgaben der beiden zentralen defensiven Mittelfeldspieler einfach alleine zu erledigen. Er biss sich ins Spiel und erwies sich als furchtloser Soldat, der bereit war in den Krieg zu ziehen, durchs Fegefeuer zu marschieren und notfalls für sein Land zu sterben. Schweinsteiger, der Gott des Gemetzels, der als Tribut für den Titel einverstanden war Raubbau an sich selbst zu betreiben und seinen eigenen Körper – zumindest vorübergehend - zerstören zu lassen.

Für den Mönchengladbacher Kramer brachte Löw André Schürrle fürs linke offensive Mittelfeld und zog Mesut Özil auf die Halbposition im rechten Mittelfeld. Das funktionierte. Auch hier muss man konstatieren, dass die Verletzung Kramers von Vorteil war, ähnlich wie die von Shkodran Mustafi gegen Algerien. Sie hat Deutschland vor schlimmeren bewahrt. Wer weiß, ob Kramer den epischen Kampf nervlich durchgestanden hätte. Und mit großer Wahrscheinlichkeit wäre er außerstande gewesen eine Flanke von der Qualität vors Tor zu zirkeln, wie Schürrle es beim 1:0 getan hatte. Wenn es nicht beinah ketzerisch und unfair gegenüber den betroffenen Spielern wär, so muss man aus Expertensicht dennoch mutmaßen, dass der DFB den Titel auch zwei eigenen Verletzungen (Kramer, Mustafi) zu verdanken hat. Wahrscheinlich ein Novum in der Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften. So war Löw gezwungen seine Fehler zu korrigieren bzw. mutiger zu agieren und er wählte dann die passenden Lösungen, fand den richtigen Weg zum Titel, natürlich auch mangels realistischer Alternativen. Kurzum: Er wurde zu seinem und unserem Glück gezwungen. Anders hätte Jogi es wohl wieder verkackt.

Das Spiel anzusehen, es als Zuschauer zu erleben, empfand ich anstrengender als jemals zuvor. Und dabei war ich nicht mal im Stadion. Bekanntlich verdoppeln sich die physisch-mentalen Schmerzen noch beim Live-Erlebnis. Ich denke heute noch mit Schrecken an die 120 Minuten in der Fankurve von Wembley als DE im EM-Finale 1996 einen Rückstand gegen Tschechien aufholen musste und 20.000 Deutsche dann, nachdem dies in der regulären Spielzeit noch gelungen war, auf ein schnelles „Golden Goal“ in der Verlängerung hofften – egal für wen, hauptsache diese nervenzerfetzende Spannung verschwindet. Das Spiel hat mich damals Jahre meines Lebens gekostet, trotz Oli Bierhoff. Aber 2014 war es schlimmer, viel schlimmer. Als Lionel M. in Minute 121 für die albiceleste zu einem direkten Freistoß in zentraler Position antrat, konnte ich es nicht mehr ertragen und musste den Raum verlassen. Zu groß die Panik, den sicher geglaubten Titel, der uns erst wenige Minuten zuvor in den Schoß gefallen war, wieder aus der Hand zu geben. Und natürlich rief ein Scherzbold nach Messis Ausführung mit schmerzverstellter und ernüchterter Stimme: „Tor!“ In diesem Moment, ich befand mich im Niemandsland zwischen Klo und Flur, wollte ich sterben. Hier und Jetzt. Kurz und schmerzlos. Zum Teufel mit zukünftigen WM-Titeln, darauf war ich bereit zu verzichten, wenn es nur bloß kein Elfmeterschießen geben würde. Ein Blick ins Auditorium entlarvte den Scherzkeks als solchen, Sekunden später war das Spiel aus und es durfte voller Inbrunst gejubelt werden. Zumindest in der Theorie. Doch bei mir ging nichts mehr. Ich war verkrampft wie eine Moorleiche. Es hat echt noch lange gedauert, bis die Anspannung der befreienden Freude gewichen war. Zunächst zitterte ich mich durch die Siegerehrung und auch beim Anblick der fast schon kitschigen, surrealen Bilder vom nächtlichen Maracana, mit Feuerwerk und Goldpokal in deutschen Händen hatte ich noch Magenkrämpfe. Trotzdem: Too good to be true. Zu schön um wahr zu sein. Als ich irgendwann alle Systeme runtergefahren hatte, war ich sogar bereit in die Altstadt zu fahren um es amtlich krachen zu lassen, so wie ich in all den Jahren, seit ich im August 1990 mit dem Alkohol aufgehört habe, ein „schwachwerden“ im Falle eines deutschen WM-Gewinns angekündigt hatte. Aber dann befand ich mich alleine unter Teens und Twens in einer Nacht zu Montag. Da kam doch nicht die exzessive Saufgelage-Stimmung auf. Ich saß hingebungsvoll und still auf einem Elektrokasten und sah dem entrückten Jungvolk bei seiner friedlichen und ekstatischen Ausgelassenheit zu. Peace, Love & Happiness! Woodstock, Mondlandung und Live Aid in einem. Noch einmal jung sein und dazu gehören? Nein, dann hätte ich all das nicht erlebt, was ich erlebt habe und ich möchte auf keine Sekunde verzichten. Sieg und Niederlage, Schmerz und Triumph, Trauer und Glücksgefühl, Liebe und Hass – das alles gehört zum Fußball dazu, genau wie zum Leben. Ohne das alles geht es nicht. Die Würze würde fehlen und das soll sie doch nicht.

Aber was wäre Schmerz ohne Erlösung? Wir sind Weltmeister. Und so habe ich mit allen meinen Friedem gemacht. Mit Nivea-Mann Löw, mit der Verbannung des Gomez, mit Kuranyis Bärtchen, ja sogar mit Sicherheitsrisiko Mustafi. Selbst wenn in naher Zukunft mal etwas danebengeht, es mal zu einer unerwarteten Niederlage, ja sogar zu einem frühen Turnier-Exit kommen sollte – ich werde es mit mucho Gelassenheit ertragen, denn auch ich bin (wieder) Weltmeister, und das sogar schon zum dritten Mal – Danke dafür, Jungs!

On my way to Rio - Dirki bloggt die WM 2014 in Brasilien
Tag(s) : #Dirki bloggt die WM-EM
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